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3 Chöre (AT)

Willi Bücking und Rebecca Sohnrey

CANTE ALENTEJANO

3 Chöre (AT)

Anker 1

Zusammen mit der Produktions-Gruppe von Komiliton*innen und unter der Leitung von Prof. Dr. Paulo Ferreira-Lopes und Prof. Hartmut Jahn waren wir zwischen dem 23. und 30. September 2020 im Baixo Alentejo im südlichen Portugal. Ziel waren Chöre des "Cante Alentejano" - und die Auseinandersetzung um die audio-visuelle Aufzeichnung von immateriellem Weltkulturerbe.

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Der "Cante Alentejano" ist ein besonderer regionaler Gesangsstil, der in choralen (Amateur-)Ensembles überliefert und aufgeführt wird. Die Entstehung des Cante lässt sich historisch verknüpft mit der wirtschaftlichen Situation des südlichen Portugals im Mittelalter verstehen. Die Agrarwirtschaft der Region war geprägt von Großgrundbesitz und Wanderarbeit. Der Großteil der Landbevölkerung bestritt seinen Lebensunterhalt mit saisonaler Feldarbeit. Gesungen wurde sowohl während der Arbeit als auch nach Feierabend in der Taverne. Die Lieder bestehen dabei kompositorisch meist aus zwei Teilen, einer Art Strophe, die im Regelfall von einem Solisten allein begonnen wird. Eine zweite Stimme leitet diese meistens mit kurzem Auftakt in den Choral über. Diesen singen alle Beteiligten gemeinsam. Die Melodie ist einstimmig, das heißt, eine Aufteilung in verschiedene Tonlagen erfolgt nicht. Dabei singen allerdings alle Sänger in der Tonlage, die für sie am bequemsten ist. Somit entsteht eine mikro- und polytonale Auffächerung der Gesangsmelodie: die einzelnen Stimmen sind zueinander oft dissonant, verschmelzen aber durch die gemeinsame harmonische Bewegung. 


Inhaltlich handeln die Lieder sowohl von persönlichen als auch strukturellen und gesellschaftlichen Themen. Liebe und Schmerz sind genauso Thema wie wirtschaftliche Ungleichheit und Entfremdungszustände. So war beispielsweise "Grandola, Vila Morena" (Grandola, Stadt der Brüderlichkeit), ein Stück im Stil des Cante Alentejano, der Startschuss zur Nelkenrevolution. Das Stück, das die Stadt Grandola im westlichen Alentejo besingt und unter der Diktatur Salazars verboten war, wurde von den Nelkenrevolutionär*innen als Signal vereinbart. Seine Ausspielung im Radio informierte das ganze Land über die abgeschlossene Organisierung des Militärs und deren Bereitschaft zum Umsturz des Regimes. Inhaltlich vergleichbare Titel gibt es für nahezu jedes Dorf und jede Stadt im Alentejo.


Im Rahmen unserer Reise trafen wir auf Chöre aus den Orten Serpa, Cuba und Vidigueira. An diesen drei Chören lässt sich ein wenig die jüngere Entwicklungsgeschichte des Cante Alentejano nachvollziehen.

Der Chor aus Serpa, mit dem höchsten Altersdurchschnitt der drei, orientiert sich in seinem Gesang noch am stärksten am monotonen Rhythmus der Arbeit. Der Rhythmus des Liedes wird stringent gehalten, musikalische Pausen gibt es nicht. Die Sound-Mischung greift dies auf und ermöglicht die Erfahrung und Untersuchung des Gesangs an sich. Durch die Aufnahmesituation, in der es keinen Hall oder Raumklang gibt, stehen die einzelnen Stimmen im Vordergrund. Die virtuelle Hörposition befindet sich in der Mitte des Chores. Dieser wird im Verlauf des Stückes allmählich auf seine tatsächliche Größe gestreckt, sodass der Fokus beim Hören vom Gesamteindruck der Gruppe hin zur differenzierten Analyse einzelner Stimmen wandern kann. Die Sänger treten in individuell gestalteten Trachten auf, die sich an der früheren Funktionskleidung der Feldarbeiter orientiert. Visuell wird der Eindruck des spontanen Zusammentreffens nach der Arbeit erweckt.

 

Bei den folgenden Beispielen stand die Tonbearbeitung im Vordergrund.

Das Colourgrading und die Montage sind noch in Arbeit.

Der zweite Chor in unserer Liste aus der Kleinstadt Cuba zeigt schon eine Weiterentwicklung des Gesangs. Nicht nur treten die Sänger in einheitlicher Gruppentracht auf, auch trägt die Gruppe mit "Ceifeiros de Cuba" (in etwa die "Sensenmänner von Cuba") einen Eigennamen, der sich vom normalerweise üblichen "Grupo Coral" abhebt. Der Gesangsstil des Chors wirkt wesentlich weniger funktional. Töne werden zum Teil länger gehalten, es tauchen deutlichere rhythmische Strukturen aus unterschiedlichen Notenwerten auf und über den Verlauf des Stücks lässt sich eine eine Dramaturgie wahrnehmen. Die "Ceifeiros de Cuba" präsentieren einen Cante Alentejano, der das Feld verlassen hat. Unsere  Aufnahmesituation ist hier das innere einer Kirche und damit stark geprägt von Hall und Raumklang. Die Mischung zeichnet eine Entwicklung vom eher traditionellen Stil hin zum Bühnengesang nach. Das Lied beginnt mit einem Solo in stark begrenztem Surroundfeld. Über den Verlauf des Liedes entwickelt sich das Verhältnis von Direkt- und Diffus-Schall merklich, der Nachhall einzelner Silben und Wörter wird deutlich hörbar. Auch lassen sich einzelne Stimmen und tonale Bewegungen ausmachen, die nicht vom gesamten Chor ausgeführt werden, die Einstimmigkeit wird teilweise verworfen. Jedoch sind die Soli auf den gesamten Chor verteilt. Im Verlauf unserer gesamten Aufnahme wurde fast jede Strophe von einem anderen Sänger aufgeführt.

Der dritte und jüngste Chor kommt aus Vidigueira, einer Kleinstadt unweit von Cuba. Im Gegensatz zu den anderen beiden Chören war die Tradition des Cante Alentejano in diesem Ort zwischenzeitlich beinahe ausgestorben. Erst mit der Erklärung zum immateriellen Weltkulturerbe der UNESCO vor einigen Jahren entwickelte die jüngere Bevölkerung wieder ein Interesse dafür. So lässt sich an diesem Beispiel untersuchen, was im Verlauf einer Generation verloren gehen kann. Der konstante Rhythmus des Liedes ist noch deutlich spürbar, allerdings entstehen schon immer häufiger einzelne Stimmen, die sich sanft voneinander abheben. Vor allem am Ende der letzten Strophe markiert der Einsatz der zweiten Stimme kurz vor dem Choral eine weitreichende Veränderung der Stilistik. Auch das Auftreten der Gruppe hebt sich von den übrigen Chören ab. Wenngleich der Name mit "Grupo Choral da Vidigueira" von einer Rückbesinnung auf die Frühphasen des aufgeführten Cante zeugt, entsprechen Hemd und Jeans nicht dem traditionellen Auftritt der Cante-Sänger. In diesem Widerspruch von Entwicklung und Konservation befinden sich die jungen Sänger aus Vidigueira. Die Aufnahmesituation in einer kleinen Kapelle ermöglicht die Untersuchung der vertikalen Auffaltung des Stückes. So lassen sich durch lange gehalten Töne und den massiven Hallanteil die Bewegungen der einzelnen Stimmen nachvollziehen. In der Mischung nimmt der Diffus-Schall den größten Raum ein. Die Aufstellung der Sänger im Zweidrittelkreis entzerrt den Chor auch auf räumlicher Ebene und ermöglich damit die Untersuchung des Zusammenspiels einzelner Gesangsstimmen mit- und gegeneinander.

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